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GIMME SHELTER

(Eröffnungsrede der mit Mag. Christiane Reiter kuratierten Ausstellung, Kunstverein sehsaal, 2025)

Gimme Shelter. Gib mir Schutz. Gib mir einen Unterschlupf.
In dem für den Ausstellungstitel entlehnten Song der Rolling Stones heißt es unter anderem „war is just a shot away“ — Krieg ist nur ein Schuss entfernt — oder „a storm is threatening my very life today“ — ein Sturm bedroht heute unmittelbar mein Leben.

Textzeilen aus dem Jahr 1969, die traurigerweise aktueller kaum sein könnten in einer Zeit, in der stabil geglaubte, grundlegend liberale Werte und Sicherheiten unaufhaltsam — und in einem geradezu betäubenden Tempo — zu erodieren scheinen oder vorsätzlich zum Einsturz gebracht werden.

Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor Stimmen, die zu beschwichtigen versuchen. 
+ Immerhin wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
+ Außerdem dürfe man die Resilienz der Menschen und liberalen Gesellschaften nicht unterschätzen.

Ich persönlich bin da – wie viele andere – offen gesagt pessimistischer, insofern die gegenwärtige Entwicklung in Kombination mit der geradezu imperialen Einflussmacht der neuen Technologien, eine ganz neue Dimension zu entfalten vermag.

Vor allem ideologisch im Dienste der sogenannten „neoreaktionären Bewegungen“ und deren programmatisch archaischen, antiaufklärerischen, antidemokratischen, antiegalitären, antiliberalen, wissenschafts-, kultur- und kunstfeindlichen sowie neofeudalen Agenda. Eine Agenda, die sie auch in die Tat umsetzen. Und das völlig ungeniert und geradezu lehrplanmäßig. Dazu genügt aktuell ein Blick auf die USA.

Die Hoffnung, dass wir gerade inmitten dieser Gemengelage heute angstloser oder wehrhafter als in früheren Zeiten sein sollten, drängt sich dabei — euphemistisch formuliert —nur zaghaft auf.

Gimme Shelter. Gib mir Schutz. Gib mir einen Unterschlupf.
Nicht weniger aktuell ist zwangsläufig auch der Ruf, der Wunsch, das Bedürfnis nach einem Rückzugsort, nach Sicherheit, nach Abgrenzung, nach Gegenwehr.

Und kaum etwas bietet seit jeher einen vergleichbaren Shelter des Rückzugs, der Widerstandsfähigkeit und gleichzeitig des Widerstands als die Resilienz künstlerischer Praxis und künstlerischen Ausdrucks.

Das trifft im Prinzip auf jede ernsthafte künstlerische Position zu, die nicht bloß oberflächlich die Zeichen des Künstlerischen imitiert und Themen versinnbildlicht.

Was die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler dabei im Besonderen auszeichnet, ist, dass in ihren Arbeiten zweierlei, für uns relevante Aspekte in Hinblick auf das Thema  — und der Möglichkeit  — eines Shelters vereinen:

1. Zum einen selbstverständlich, indem sie sich formal mit den Chiffren der Behausung und dem Raum auseinandersetzen, mit ihnen spielen, sie reduzieren oder weiterentwickeln.

2. Zum andern  — und gemäß des sehsaal-Jahresthemas „Wiederholung“ — indem sie sich repetitiver, künstlerischer Schaffensprozesse bedienen und damit intime Strukturen schaffen, mit denen sie sich und uns, sichere und geborgene Räume erzeugen und den sehsaal selbst in einen temporären Shelter verwandeln.
Und das mit ganz unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen, Medien und Bedeutungsebenen.

Insofern möchten wir die einzelnen Positionen aus unserer kuratorischen Sicht noch ganz kurz beleuchten.

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Jürgen Bauer beschäftigt sich bereits seit Jahren mit der Geometrie des Urbanen und der Architektur, wobei sein Schwerpunkt auf der einfachen Form eines Hauses mit Satteldach liegt. Zusammengesetzt ist es jeweils aus vier ganzen und zwei halben Quadraten, die er in scheinbar unendlichen Varianten und Wiederholungen zusammen und zueinander setzt — malerisch, zeichnerisch, druckgrafisch oder eben bildhauerisch.
Dabei wird das Haus als repetitiver Umriss nicht zuletzt zum Symbol für den Ursprung eines Rückzugsort, der dennoch durchgängig bleibt und wie hier, mittels einer Leiter gleichsam einen Spähposten zur Außenwelt bietet.

Für Katharina Fink zählt der Versuch, einer ständigen Reizüberflutung mit Einfachheit und der konzentrierten Wiederholung zu begegnen und sich auf diese Weise einen Rückzugsort aus Reduziertheit und maximaler Entschleunigung zu schaffen.
In ihrem formalen Weg der Entgrenzung der Zeichnung in den Raum, erzeugt sie durch die schiere Masse — ihr work -in progress-Werk hält derzeit bei 6000 schwarz gestrichenen Holzstäben — einen Nimbus der Möglichkeit eines Unterschlupfs und eines Szenarios, vorbereitet zu sein.

Das künstlerische Oeuvre von Thomas Laubenberger-Pletzer umfasst die Zeichnung in ihrer Vielfältigkeit der Einschränkung. Er verwendet ausschließlich Papier im Format A4, schwarzen Fineliner und die Linie als ursprüngliches, minimales und unmittelbares künstlerisches Ausdruckmittel, das auf dem weißen Hintergrund Räume schafft, sowie gleichermaßen umgekehrt dem Weiß des Zeichengrunds selbst einen Raum gibt. 
Durch die Konsequenz seines Arbeitens im Ausloten geometrischer Möglichkeiten, Strukturen und der sich logisch daraus ergebenden Variationen, erzeugt er Raster, Buchstaben und enigmatische Planzeichnungen, die das Formale und den Arbeitsprozess gleichsam zu Räumen und Rückzugsorten verschmelzen lassen.

Lisa Reiter versteht in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung Räume als etwas, die durch menschliche Interaktion geformt werden, während diese ihrerseits Interaktionen beeinflussen.
Im konkreten Fall hier, greifen ihre Arbeiten Form, Funktion und Rhythmus von Fenstervergitterungen, Zäunen oder Zauntoren auf und thematisieren diese als scheinbar durchlässige Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Dabei betrachtet sie das Gitter freilich nicht nur als geometrische Anordnungen, die sich in ihrer formalen Grundstruktur wiederholen, sondern insbesondere auch in ihrer psychologisch motivischen und folglich künstlerisch-handwerklichen Wiederholung als Symbol von Besitz, Kontrolle und dem Wunsch, etwas — oder eben sich selbst — zu beschützen.

Die wechselseitige Interaktion steht auch im Zentrum des Arbeitens von Käthe Hager von Strobele — hier allerdings zwischen Natur und Architektur.
Beide begreift sie als Strukturen „normierter Unterschiedlichkeit“ oder auch „normierter Individualität“.
Während Pflanzen zwar einem biologischen Programm unterworfen sind, aber dennoch jeweils einzigartig Individuen hervorbringen, folgen Behausungen bestimmten grundlegenden konstruktiven Prinzipien, sind jedoch auch Ausdruck individueller Lebensweisen und Prägungen. In ihren Arbeiten kreuzt sie die beiden Bereiche, die auch sonst im Widerstreit von Natur und Kultur stehen.
Immer wieder aufs Neue versieht sie Pflanzenblätter durch Ritzung oder Faltung mit einer Hausform und fotografiert sie vor schwarzem Hintergrund im Stil botanischer Nachschlagewerke. Umgekehrt evoziert deren fortlaufende Inszenierung wiederum die Assoziationen eines Hauses und wirft die Frage auf, wieviel architektonische Rückzugsräume nötig sind oder sein dürfen, um unsere individuelle Natürlichkeit zu entfalten.